du kannst die Wellen nicht stoppen, aber Du kannst lernen sie zu reiten

20.06.2021 Vila Nova de Arousa – Santiago di Compostela

Tagesspruch

was Du für den Gipfel hältst, ist nur eine Stufe

Seneca

meine Erlebnisse auf dem Jakobsweg

äh, kann es wirklich schon soweit sein, dass diese meine letzte Etappe ist? Nach meiner Nacht in der Sporthalle gehe ich mit meinem Mitpilger zum Hafen. Denn dort soll uns ein Boot wieder auf den Weg bringen. Quasi geteilte Kosten, da freut sich die Pilgerkasse. Wir machen uns um 07:30 Uhr fertig, wollen etwas frühstücken und dürfen feststellen, dass wir zu früh für einen Sonntag sind. Nichts hat offen. So verbringen wir ein wenig Zeit am Hafen und nehmen das erstbeste Café, welches dann seine Türen öffnet. Insgesamt fängt der Tag kalt, trüb und regnerisch an. Erinnerst Du Dich daran, als ich ganz am Anfang geschrieben habe, dass ich weder Regenjacke noch Regenschirm dabei habe? OK, Schirm wurde geklärt, aber so wirklich auf kaltes Wetter bin ich nicht eingestellt. Aber wat mut, dat mut, jammern gilt nicht. Ich wollte es ja so. So ziehe ich dann meine etwas dickere Jacke an, ganz hübsch mein ärmelloses Fleecejäckchen und meine einzige längere Hose. Das muss reichen.

Um neun Uhr kommt unser Bootsfahrer an. Wir trinken noch einen Kaffee und essen den obligatorischen Toast, den die Spanier lieben. Wir haben unsere Teller aufgegessen, denn die Sonne zeigt sich ein wenig hinter den Wolken. Es kann losgehen!

Wir bekommen quasi eine Bootsfahrt mit Insiderwissen. Wir fahren vorbei an Muschelsammelbecken, immer weiter raus aus der Bucht und begeben uns somit auf die Spuren des heiligen Jakobus. Die Brandung ist da, das Boot schnell und dann fängt es doch wieder an zu regnen. Doch auch hier kommt wieder der Pilgergott oder Pilger Engel ins Spiel. Der Bootsfahrer gibt mir auf einmal eine Regenjacke. Ich denke mir: Mensch, der ist aber gut ausgestattet. Ziehe sie an und später stellt sich heraus, dass diese Jacke von einer Pilgerin vergessen wurde und er sie mir schenkt! Denn ich hätte sie jetzt nötig!

Was ich lernen durfte: anscheinend habe ich in Erdkunde nicht so wirklich aufgepasst. Denn für mich war klar. Jakobsweg in Portugal nach Spanien, das wird belohnt mit angenehmen Temperaturen. Falsch!

Was ich außerdem lernen durfte: Galizien liegt zwar in Spanien, doch sind die Einwohner hier sehr auf ihre Autonomie bedacht. Und: Galizien wurde geprägt von den Iren. Deswegen auch die Dudelsackspieler und sogar die Wikinger war dort.

Was ich außerdem lernen durfte: Galizien und der Odenwald haben viele landschaftliche Gemeinsamkeiten.

Nach ca. einer Stunde kommen wir dann in Padron an. Denn hier gehts dann weiter immer Richtung Santiago di Compostela. Achso, mein Spanischer Mitpilger verlässt mich, denn, das habe ich vergessen zu erwähnen: er ist mit dem Rad unterwegs. Mir ist klar, dass dies eine lange Strecke wird, ich hätte theoretisch die Option, mir eine Unterkunft auf dem Weg zu suchen, doch ich merke, dass ich diese Strecke am Stück laufen will. Da ist er wieder der Ehrgeiz…

In Padron angekommen denke ich auch hier zunächst: total hässlich. Doch dann entdecke ich die Altstadt. Mittlerweile habe ich alle Klamotten an, die mich irgendwie wärmen. Hübsch ist anders. Doch alle Starallüren sind auf dem Jakobsweg so oder so abhanden gekommen, wenn sie denn überhaupt vorhanden waren. Mein Outfit wird mit Regenjacke und Schirm vervollständigt.

Obwohl es sonntag ist kommen mir ein Haufen Menschen mit Tüten entgegen. Ein paar Meter weiter erfahre ich den Grund: sonntags ist dort ein Wochenmarkt, mit allem, was das Herz begehrt. Ich entdecke ein toll bestückte Markthalle. Sogar mehrere Fischstände bieten eine enorme Auswahl an und ich entdecke in der Ecke einen Verkäufer, der die berühmten Jakobsmuscheln zum Verkauf anbietet. Im Netz und in diversen anderen Geschäften werden die Jakobsmuscheln, die ein Erkennungszeichen der Jakobsweg-Pilger sind, zu horrenden Preisen verkauft. Hier in Padron auf dem Markt finde ich meine Jakobsmuschel, sogar mit einem Edding bemalten Zeichen, für 1,50€. Da lacht meine Pilgerkasse. So, auch dieser Punkt wurde ganz ohne mein Einwirken abgehackt. Auch hier wieder das Learning: alles kommt zu rechten Zeit, wir müssen Dinge nicht unbedingt beeinflussen. Wenn die Zeit da ist, werden sie passieren.

Beflügelt trete ich wieder ins Freie und entdecke einen mega Stand, der die berühmten Churos verkauft. Ich kann nicht nein sagen und decke mich damit ein. Während ich so weiterschlendere, entdecke ich eine Kirche und gehe auch dort rein. Wer weiß, wie viele mir noch bis zum Ziel begegnen und außerdem ist es Zeit, innezuhalten. Zudem kann ich meinen Pilgerausweis mit dem obligatorischen Stempel versehen lassen. Irgendwann gehe ich weiter, laufe los und darf feststellen, dass ich meinen Schirm dort vergessen habe. Also wieder zurück! Ich gestehe, manchmal ist es gar nicht so einfach sich um fünf Dinge zu kümmern. Der Schirm ist wichtig, also bleibt mir nix anderes übrig.

Nachdem auch das geklärt ist, stelle ich fest, dass der Weg von Padron nach Santiago 25 Kilometer beträgt.

Zum einen ist das wichtig, denn das wird die längste Strecke werden, die ich bisher gelaufen bin, denn vom Hafen bis zum Markt waren es auch ca. 2 Kilometer und zum anderen ist diese Zahl für mich persönlich wichtig, denn es sind exakt 25 Jahre, die ich ja irgenwie Revue passieren lasse. Wir sprechen hier von 16-41.

Wandern, Natur & Emotions Coaching in Eigentherapie

Dies muss ich ersteinmal verdauen und komme dann zu dem Entschluss, dass ich diese Kilometer nutzen werde, um mein Coachingwissen an mir selbst auszuprobieren. Heißt im Speziellen:

Ich werde bei jedem Kilometer ein Jahr Revue passieren lassen. Zwischen den einzelnen Kilometern habe ich Zeit, gedanklich, emotional und körperlich den Weg zu gehen. Falls Du Dich hiermit nicht auskennst, ich wende also Techniken, Tools, usw. aus meiner Arbeit an. Quasi eine Timeline-Arbeit. Und hier finden wir dann am Ende also doch noch den Grund, warum ich auf dem Jakobsweg unterwegs bin. Jeder Kilometer der letzten 25 Kilometer steht für ein Jahr meines Lebens!

Die Wegemarkierer machen es mir leicht, denn nach jedem Kilomter steht ein Stein mit den gelaufenenen und noch übrigen Kilometern. Ich nutze diesen Wegweiser und mache an jedem Stein ein Foto. Ein Stein, ein Kilometer, ein Lebensjahr und seine Erlebnisse in meinem Leben.

Der Weg an sich ist von Padron bis Santiago nichts Besonderes! Da hatten wir zwichendrin bessere Highlights! Dennoch diese Etappe vereint auf ihren 25 Kilometern meiner Meinung nach die gesamte landschaftliche Vielfalt. Ich treffe auf Steine, Kopfsteinpflaster, verschiedene Landschaften. Evtl. hat mein Empfinden auch damit zu tun, dass definitiv die Sonne fehlt, denn es regnet unablässlich und trotz Schirm und Regenjacke bin ich nass und es ist mir kalt. Mich umzuziehen macht keinen Sinn, denn da hätte ich bei Ankunft nichts mehr Trockenes. In meinem Notizbuch steht außerdem, dass ich knapp zehn Kilometer vor Santiago mir dann auch keine Unterkunft mehr suchen mag.

So laufe ich dann jeden Kilometer und betreibe „inner Work“. Ich habe mir notiert, dass diese Etappe nicht wirklich einfach ist. Denn es melden sich meine Füße, Hüfte. Die Nässe und Kälte machen mir zu schaffen, ich denke, dass es nur so 13 Grad maximal sind. Und die letzten Kilometer nach Santiago ziehen sich. Physisch und psychisch komme ich an meine Grenzen. Außerdem fehlen dann direkt vor und in Santiago die Pfleile. Kann auch sein, dass es an mir gelegen hat und ich blind und schnell gelaufen bin. Auf jeden Fall habe ich das Gefühl, dass ich mich, nachdem ich eine Kurve unterhalb der Autobahn genommen habe, ziemlich lange brauche, um in die Innenstadt zu gelangen. Und der Weg zur Innenstadt zieht sich und ist wirklich mit Vorstadtflair geprägt.

Dann endlich erreiche ich mit Schmerzen die Innenstadt. Eigentlich bin ich nur froh, dass ich angekommen bin! Ich habe mir notiert, dass hier irgendwie keiner freundlich nickt. Ich stelle mir die Frage, was ich erwartet habe? Ein Empfangskomitee? keine Ahnung. Der Platz vor der Kirche ist leer, es regnet. Dafür ist das Gerüst weg. Gefühlt schleppe ich mich die letzten Meter zum Überdachten Bogen vom gegenüberliegenden Haus. Ich setze mich klitschnass hin und sitze dann einfach nur da. Die anderen sind in Gruppen unterwegs. Umarmen sich, klatschen in die Hände. Und ich sitze einfach nur da und kann es nicht fassen, dass der Weg nun vorbei sein soll. Alleine, wenn ich das hier gerade schreibe, werde ich richtig emotional.

Was habe ich erwartet? Eine Erläuterung? Eine persönlicher Wechsel? Ca. ein halbe Stunde sitze ich da. Beobachte, höre den Glocken zu und dem Dudelsackspieler zu. Ich probiere den Moment zu genießen und rufe auch nicht direkt daheim an. Mir wird klar, dass ich das erst einmal mit mir ausmachen darf. Ich kann diesen essentiellen Fragen nicht lange nachgehen, denn Dank meiner durchnässten Klamotten werde ich schnell wieder ins Hier und Jetzt befördert! Mir ist kalt, ich bin nass, mir tut alles weh und die Yvonne hat Hunger, keine Herberge und es ist spät. Also geht es dann nicht mehr darum, tolle Fotos von mir vor der Kathedrale zu schießen, sondern ganz einfach profane, wichtige Dinge zu erledigen. Die Reihenfolge ist klar, Pilgerausweis, Hostel, Duschen, Ausruhen, Essen.

Ich probiere ausfindig zu machen, wo ich denn nun den Stempel bekomme und frage diverse Menschen nach dem Weg. Entweder haben sie keine Ahnung, Bock oder was auch immer. Auf jeden Fall werde ich im Kreis herumgeschickt. Super lustig, wenn man über 25 Kilometer gelaufen und am Ende seiner Kräfte ist. Irgendwann finde ich einen Pilger, der Ahnung hat und stelle fest, dass ich einfach anstelle im Kreis zu laufen, nur links die Treppe runter hätte laufen müssen, um dann rechts in die Straße zu gehen, um meine Compostela zu erhalten. Im Gegensatz zu anderen muss ich nicht lange warten und kann mir meine Urkunde gleich mitnehmen.

Auch eine Herberge finde ich fußnah. Alle Covidmaßnahmen sind hier anscheinend nicht wichtig, denn der Raum mit seinen Betten ist bis auf die letzte Kajüte belegt! Ich springe direkt unter die Dusche, falle ins Bett und merke, dass mich meine Gefühle und Emotionen überrollen. Genau in dem Moment kommte in Anruf von daheim und bei mir brechen dann auch alle Tore auf, ich fange an zu heulen. Ich gestehe, ich bin komplett überfordert. Was ich aber sofort merke, der mein Weg, insbesondere der Jakobsweg ist noch nicht zu Ende. Jetzt fängt er erst richtig an. Doch dazu an anderer Stelle mehr.

Ich ruhe mich also in meiner Kajüte mit Vorhang aus und lerne Kimberly aus Alabama kennen. Wir beschließen, dass wir gemeinsam Essen gehen. Und auch hier begegene ich wieder einer spannenden Person. Kimberly hat jahrelang in Barcelona gelebt. Durch ihre damalige Situation wurde sie Alkoholikerin und beschloss vor drei Jahren wieder zurück in die USA zu gehen, auch um dort eine von diesen wirklich strikten Therapien zu beginnen. Das alleine ist schon bemerkenswert, doch ich muss Dir erwähnen, dass sie in Barcelona in einer Beziehung lebte, zudem hat Kimberly eine achtjährige Tochter. Sie fasste somit den Entschluss, dass es als Alkoholikerin so nicht weiter geht und verließ Mann und Kind! Wow! Mein Mutterherz blutet. Sie erzählt weiter, dass sie nun von den USA geflogen kam, den Frances gewandert ist und gerade in Santiago ankam, dann will sie ihre Tochter besuchen und dann gehts wieder in die USA. Sie stellt abschließend fest, dass sie mit sich im Reinen ist.

Während wir unser Pilgermenü essen wird der Redeball wieder an mich zurückgeworfen und sie stellt mir die Frage: und was ist Deine Geschichte?

Zahlen, Daten, Fakten

insgesamt ca. 56 km

knappe 28 km davon zu Fuß

08:15 h unterwegs

den STreckenverlauf findest Du hier